Spazierengehen oder, unheimlich, ”verschollenzugehen”, wie es bei Franz Kafka heißt, liegen hier nahe beieinander. Doch die Faszination für den mythischen Orient samt seiner Erzählungen, die aus einem Kelim einen fliegenden Teppich zu machen verstehen, stellt nur den Aufhänger für Pauline Kraneis’ jüngere Zeichnungsproduktion dar. Denn in dem Moment, wo das Auge den Teppich betreten hat, sind die Linien und gestrichelten Flächen bereits ins Dreidimensionale umgeschlagen, haben aus Bordürenstreifen verwinkelte Wege, aus Zackenborten Treppenhäuser entstehen lassen. Andere Muster bilden labyrinthische Tunnelröhren, Korridore und Gangways. Trifft man auf eine Kreuzung, dann muss das Herumstreifen in die eine oder die andere Richtung zielen: Die Weichen werden gestellt. Einbahnstraßen erübrigen eine solche Entscheidung für den Moment. Und Sackgassen, die hier die Regel sind, führen automatisch zu einem Gate, von dem aus der Betrachter-Flaneur nur noch abheben kann. Aus dieser zeitgenössischen Perspektive erschließt sich ihm das vertraut erscheinende Teppichmuster als urbanes Gefüge aus Verkehrsadern, Siedlungen und den unterschiedlichen Terminals: aus Flughäfen, Bahnhöfen, Parkhäusern (terminal 2-5, Weichen, 1999-2001).


Auf Pauline Kraneis’ Parkdecks fahren jedoch keine Autos, an ihren Gates parken keine Flugzeuge; hier figurieren Metaphern Orte und konturieren urbane Territorien. Und die Gangways–ihrer viele, denn jedes Terminal besteht vorwiegend aus Ein-, Auf- und Ausfahrten, aus Rampen, Gleisen und Treppen–führen ins an-organische Herz dieser Metaphern, dorthin, wo die Zeichen strömen und pulsieren, einmal einen Raum produzierend, ein andermal eine Ordnung repräsentierend. Weisen die oftmals rot hervorgehobenen Richtungspfeile potentieller Zirkulation jedoch ins Leere, signalisieren sie Leerlauf oder Stillstand, dann schließlich zeigt sich das Terminal als Endzustand, doch nur, um dem nächsten Modul, einer weiteren Plattform eine Anschlussmöglichkeit zu zeigen. Denn das operative Piktogramm, der Pfeil, kann auch Verketten, Ineinanderstecken oder Stapeln bedeuten.


Die Körper und die Orte, an denen die technologischen Prothesen des Menschen, seine Transportmittel, zum Zuge kommen, teilen die Produktivität der Wunschmaschine. Unersättlich bildet diese Bild auf Bild, überblendet eine Struktur mit einer anderen. So auch bei den Häusern, für die Pauline Kraneis Hausmodelle in Schnittbogen-form zur Idee von einem Haus übereinandertürmt, indem sie sie transparent zeichnet (Häuser, 1999). Bis in die Form des Katalogs erstreckt sich das dynamische Prinzip der visuellen Doppel- oder Mehrfachfigur: So zerschnitt Pauline Kraneis für eines ihrer Buchprojekte eine aktuelle Version von Teppich, 2001, in Teile, die sich wie Spielkarten in drei Reihen à sechs Ausschnitten bis auf die Leerstellen, die durch die gerundeten Ecken entstehen, wieder zusammenfügen lassen, während auf den Rückseiten der Kartons eine Auswahl ihrer Zeichnungen und Photographien zu sehen ist (terminals, hg. v. Goldrausch Künstlerinnenprojekt, Berlin 2001). Am materiellen Objekt Katalog, immer ein komplexes und wunschgeladenes Verweissystem, werden Ordnungsprinzipien durchgespielt, um Kippmomente zu demonstrieren und zwar nicht nur dasjenige Paradox, dass es weder Vorder- noch Rückseite mehr gibt: Stapel und zugleich Feld, flächig-abstraktes Musterelement und kubische Gebäudeformation, ein und mehrere Motive ... Dabei macht es einen Unter-schied, ob der Betrachterstandpunkt von schräg oben Überblick suggeriert und die Dinge klein und handlich erscheinen lässt oder ob ein Ausschnitt wie der aus dem Teppich Unvollständigkeit signalisiert, ja, auch das aus allen Karten gelegte Feld das Objekt aus keiner Perspektive vollständig zu sehen gibt. Denn Pauline Kraneis entwickelt das Bild um sich herum und stellt auf diese Weise auch den Betrachter mit ins Bild. Diese Position ist es, die die Frage der Orientierung aufwirft, leitet sich Orientierung etymologisch doch vom Orient her und heißt ursprünglich: ”seine Position nach der (aufgehenden) Sonne bestimmen”–und das bedeutet: nicht von oben herab. Während sich der Blick einen Weg zu bahnen versucht, entrollt und entfaltet sich die Zeichnung des Teppichs im doppelten Sinn. Das raum-zeitliche oder verräumlichende Prinzip der Entwicklung führt über jeden Rand hinaus und modifiziert die Grundfunktion eines Orientteppichs, einen besonderen, meist einen heiligen Ort einem säkularen Ort einzuschreiben, zumindest aber ein Territorium buchstäblich auszuzeichnen, abzugrenzen.


Bezeichnenderweise stehen bei dieser nicht-linearen Produktionsmethode eines Vorstellungsraumes, die den angenommenen Standpunkt der Betrachtung einbezieht, die klassischen architektonischen Darstellungsmodelle gar nicht zur Debatte: Weder Grund-riss und Schnitt noch Aufriss strukturieren Pauline Kraneis’ Gebäudemodelle, jene technischen Zeichnungsarten und Modifikationen des Risses, die ihren Standpunkt über die architektonische Konvention zu neutralisieren trachten. Anstelle dieser vereinfachenden und das anthropozentrische Blickregime repräsentierenden planerischen Figuration von Gebäuden treten bei Pauline Kraneis diskontinuierliche Anschlüsse, wird beispielsweise das ohnehin nicht authentische Repertoire orientalischer Schmuckfiguren mit den Markierungen einer Straßenkreuzung überschnitten. Diskontinuität zeigt sich selbst in den Strichen: Mal verdichten sich die parallelen Schraffuren zu dunklen Feldern, mal sind sie eher locker gebündelt. Ganz gegen die rechtwinkelige Gewe-be-textur aus Kette und Schuss wechseln sie die Richtung, laufen schräg zur Hauptausrichtung der Ornamentfiguren, schlagen Bögen und halten sich an keinen Rand ... Anders als Grund- oder Aufriss, die so tun, als würden sie den zukünftigen Raum exakt simulieren, brechen Pauline Kraneis’ Linien ab; der Schrift vergleichbar, die nicht ununterbrochen sein kann, ahmen sie den Riss und das Reißen nach; auf diese Weise bilden sich der Fläche räumliche Elemente ein, zumindest kann ein Betrachter sich solche dreidimensionale Formationen einbilden.


In der Serie der terminals gründen die Häuser oftmals in nichts als in weißem Papier. Wunderbar haltlos bauen die Linien und grauen Schraffuren Etage über Etage und enttäuschen so die idealistische Vorstellung, Ideen und Gebäude müssten feste Gründe haben, gar tiefgründig sein. Wie die Teppiche überspielen auch die terminals jede Tiefe auf die Oberfläche.
Wenn Pauline Kraneis die Schalt-Module auf dem leeren Blatt wie ein einzelnes, mit Vorliebe ein oktogonales Ornament aus einem Teppich isoliert, scheinen diese Elemente sich der hierachischen Ordnung zu widersetzen, die jeder Plan beständig unterhält, indem er einen Maßstab anlegt, Größen staffelt und Vorfahrten gewährt. Ähnlich verhält es sich mit den all-over gestrichelten Blättern wie Bett, 1999, und starry, 2001, die nichts als ein Netz oder Raster samt seiner topographischen Verwerfungen darstellen. Die formatfüllenden Ausschnitte–man wünscht sich, sie dem-nächst einmal wandgroß zu sehen–zoomen die BetrachterInnen hinein in das Faltengewühl, dorthin, wo die Ekstase der Kräuselungen und der Falten Volumina umschreibt, in denen sich auch ein Körper abzeichnen könnte. Bezüglich dieser formatfüllenden und großdimensionierten Zeichnungen ist der Überblick nur schwer zu haben, besonders dann, wenn, wie bei der Rauminstallation von Bett in einem Schaukasten in einer Berliner U-Bahn-Unterführung, auf die Glasscheibe noch ein weiteres, dieses Mal ein regelmäßiges, orthogonales Raster aufgetragen ist. Es erinnert an Albrecht Dürers berühmte, mit Fadenquadraten bespannte Konstruktionshilfe für ein illusionistisches Bild. Zwischen Zeichner und Objekt aufgebaut, war sie eine derjenigen Apparate, die den Gegenstand, ob eine Laute, ein Gefäß oder eine unbekleidete Frau, der zentralperspektivischen Sicht unterwarf und den anthropozentrischen Blick auf die Welt zu etablieren half. Auch in Bett wird also der Blickrahmen mitthematisiert, wie dies, in verschobener Weise, für die Teppiche gilt.


Wir sind gewohnt, terminal und Haus, Bett und Teppich den zwei fundamental geschiedenen Bereichen Innen und Außen zuzuordnen. Bettdecke und Kelim geben vor, flach zu sein, mehr oder weniger zweidimensional. Mit ihnen richten wir ein, was als von den Grund-mauern her vom Außen abgesondert gilt. Aber weder Pauline Kraneis’ gewöhnlich gemusterte Bettwäsche noch ihre ungewöhnlich dekorierten Teppiche reproduzieren diese Idee, wenn sie in der Nahsicht wie ein Gelände anmuten, das sich vor unseren Au-gen in die Tiefe erstreckt: Ob eine einfache Welle, 1999, oder eben die gebauschte Bett-decke, topographisch verschwindet die Differenz zwischen Innen und Außen, Oberfläche und Körper, privat und öffentlich in den Verwerfungen, medial fallen Stricheln und Streicheln ineins. Diese Perspektive ist es, aus der die isolierten Territorien und Verkehrs-knoten-punkte, die Straßenkreuzungen und Umschlagplätze ebenso wie die Teppiche und Betten, die Zeichen der symbolischen Ordnung von Räumen und Orten transportieren. Zugleich erweist der Modellcharakter der Häuser und Gebäude, der aus Pauline Kraneis’ spezifischem de/konstruktiven Einsatz der zeichnerischen Mittel hervorgeht, die Perspektive selbst als eine symbolische Form im Sinne eines symbolisch effektiven Blickregimes.


© Hanne Loreck