Ein anderer Erzähler, nämlich der Franzose Georges Perec, liefert in seinem Buch 'Träume von Räumen' das visuelle Gegenstück zur akustischen Raumwahrnehmung, das uns Menschen vielleicht angemessener erscheinen mag. So heißt es bei Perec: 'Wenn nichts unseren Blick aufhält, trägt unser Blick sehr weit. Doch wenn er auf nichts stößt, sieht er nichts; er sieht nur das, worauf er stößt: der Raum, das ist das, was den Blick aufhält, das, worauf die Augen treffen: das Hindernis, ein Winkel, ein Fluchtpunkt: der Raum, das ist, wenn es einen Winkel bildet, wenn es aufhört, wenn man sich umdrehen muß, damit es wieder weitergeht. Der Raum hat nichts Ektoplasmisches; er hat Ränder, er verläuft nicht in alle Richtungen, er tut alles, was getan werden muss, damit die Eisenbahnschienen sich lange vor der Unendlichkeit begegnen.' Sehen (in die Ferne sehen) bedeutet daher auch voraussehen, also durch die Lektüre des Raumes der Zeit entgegeneilen. Die Beschäftigung mit den drei Dimensionen des Raumes schließt somit zwangsläufig immer auch die vierte Dimension der Zeit mit ein. Dennoch kann die reduzierte und verkürzte Form, nämlich eine Beschränkung auf lediglich zwei Dimensionen, zu überraschenden Erkenntnisgewinnen führen, mit denen neue Spielräume eröffnet werden. Der Gebrauch von Landkarten und Stadtplänen zum Beispiel legt hiervon Zeugnis ab. Wo es gelingt, Sphären und Raumtiefen auf Papier zu bannen, dort bieten sich der Eroberung der Welt als Bild ungeahnte neue Möglichkeiten. Auch die Kunst macht sich des öfteren die Übertragung von Weltwirklichkeit in die Flachware Bild zunutze, um einer Verortung des Selbst kreative Wege zu ebnen.


So stellt der uns umgebende dreidimensionale Raum unserer vornehmlich urbanen Lebensumwelt für die in Berlin lebende Künstlerin Pauline Kraneis eine Herausforderung dar, die untersucht und befragt werden will. Mit der vermeintlich reduzierten Form der zweidimensionalen Zeichnung stellt sie diesen auf den Prüfstand, wobei sie die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen gleich mit hinterfragt. Daß die Art und Weise der Anschauung immer auch vom jeweiligen Standpunkt der Betrachtung abhängt, macht ihre zentrale Installation augenfällig, die sie eigens für das Studio des Bonner Kunstvereins konzipiert hat. Lediglich von einem konkreten Standort in der Nähe des Zugangs scheint sich dem Betrachter ein kohärentes Bild darzubieten. Schräg in den Raum verlegt sind als schwarze, schattenhafte Nachbilder zahlreiche ausgeschnittene Formen zu erkennen, die als Teilstücke zum Ornament eines Fliesenbodens gehören könnten. Man meint, ein regelmäßig sich wiederholendes Muster, einen Rapport, ausmachen zu können. Die Struktur der Formen ist so angelegt, daß sich die vermeintlich fehlenden Teile mühelos in der Vorstellung ergänzen lassen. Wie bei einem Puzzle fordern die Leerstellen die gedankliche Auffüllung heraus. Sobald sich die Betrachterin jedoch in den Raum hinein bewegt, gibt sich das Illusionspotential des ‚Bildes’ zu erkennen. Die Formen verlieren ihre vertraute Kontur, das zweidimensional fragmentarische Bodenornament des ersten flüchtigen Blicks wird zu einem dreidimensionalen Vexierbild, welches gleichermaßen Boden und Wand des Raumes überzieht und sich in einer perspektivischen Flucht auflöst. Tatsächlich gleicht kein einziges Stück einem anderen. Zusätzlich irritiert die Materialität der ausgeschnittenen Formen – erst bei eingehender Prüfung der schwarzmatten bis glänzenden Gebilde stellt sich heraus, daß sie aus 3 mm starkem Dichtungsgummi herausgeschnitten sind. Es entsteht eine Art 'Gelände', so auch der Titel der Arbeit, dessen Erscheinungsweise sich ständig verändert, wenn man sich in ihm bewegt. In einem eigenen, aufschlussreichen Text erläutert Pauline Kraneis: ‚Ein stetiges Verschieben der Perspektive in der Wahrnehmung unserer Umgebung macht es schwer, zwischen Nähe und Ferne, Innen und Außen zu unterscheiden. Die Gesetzmäßigkeiten von Bewegung und Dimensionen werden obsolet, wenn eine Ebene mit der nächsten verschmilzt und sich damit neue Räume eröffnen. Der geschaffene (Gedanken-) Raum wird somit kontinuierlich neu definiert als eine Art fluktuierendes Gebäude.’ Unsere Gesichtswahrnehmung stellt demnach in Wirklichkeit eine Hypothese, eine Deutung der Welt dar. Wir sehen nicht die Daten vor unseren Augen, wir sehen eine Deutung. Wenn wir morgens die Augen öffnen, zeigt sich unseren Blicken eine Welt, die wir ein Leben lang zu sehen gelernt haben. Die Welt wird uns nicht gegeben: Wir bauen sie unaufhörlich durch unsere Erfahrungen, Kategorisierungen, Erinnerungen und immer neue Verknüpfungen auf. Ein dezenter Wechsel des Blicks vermag daher unversehens unsere Bodenhaftung in Frage zu stellen. Auch die zweite Arbeit in der Ausstellung von Pauline Kraneis bietet unserem Blick zunächst ein nur zu vertrautes Motiv aus dem häuslichen Umfeld. Aus einiger Distanz glauben wir zweifelsfrei eine blau-weiß karierte Decke auf einer runden Tischplatte auszumachen. In korrekter perspektivischer Verkürzung ist das Linienmuster als ovale Scheibe direkt auf die Wand gezeichnet. Deutlich heben sich einige Bügelfalten ab und betonen eine imaginäre Stofflichkeit. Die Irritation und Verunsicherung folgt jedoch auf dem Fuß. So fällt zunächst der fehlende Überhang über die Tischkante auf, auch sind keine Tischbeine auszumachen, sodass die freigestellte 'Plattform' vor der Wand zu schweben scheint. Tritt man nah genug heran, kippt das Bild und bietet den Eindruck einer sanft ansteigenden Hügellandschaft aus der Vogelperspektive. Auf der dritten Wand schließlich erstreckt sich ein weiteres Bild aus blauen, roten und schwarzen Linien. Assoziationen an einen städtischen U-Bahnplan oder ein Stromleitungssystem werden hervorgerufen. Mit feinem, akkuratem Bleistiftstrich sind jedoch Quadrate markiert, die das Liniennetz als überdimensionierte Spielkarten ausweisen. Die Anschlussmöglichkeiten des Bildes laufen ins Leere, die Zuordnungen drehen sich im Kreis. Die vertraut erscheinenden Motive erweisen sich als Versatzstücke einer imaginären Parallelwelt, die sich unserem Verlangen nach eindeutiger Zuordnung entziehen. Darin besteht jedoch auch ihre Gleichnishaftigkeit dem Leben gegenüber – einem Spiel, dessen Zweck darin besteht, die Regeln herauszufinden, wobei sich die Regeln andauernd verändern und immer unentdeckbar bleiben.


Pauline Kraneis' Ausstellung ist angewiesen auf die spielerische Neugier und die Bewegung der Betrachter, ihr Engagement, sich einbeziehen zu lassen und sich auf Erfahrungen einzulassen. Die Installationen der Künstlerin verrätseln den Raum, zwingen den Betrachter zur Neuverortung und machen den Zweifel am Sichtbaren mit Hilfe des Abbildes sichtbar.